Der Seiler-Bericht. Zeugnis eines Wiener Überlebenden

 „Immer klarer und klarer wurde uns, da wir ja Augenzeugen dieser Greueltaten waren, dass wir niemals lebend aus diesem Lager herauskommen werden. Ja, arbeiten  solange  man  noch  eine  Kraft  hat  –  doch  Augenzeugen  sein,  das  konnten  die  Deutschen  nicht  brauchen.“ [1]

Bei dem sogenannten Seiler-Bericht handelt es sich um einer der wenigen Zeitzeugen-Berichte, die aus erster Hand Einblicke in den Alltag des Arbeitslagers Malyj Trostenez geben konnten. Diese Aufzeichnung, die weder den Namen des Autors noch das Datum enthält, wird dem Wiener Wolf Seiler zugeschrieben, der mit seiner Familie zu den wenigen Überlebenden des Lagers gehörte. Es wird vermutet, dass dieser Bericht als Zeugenaussage für die sowjetische Untersuchungskommission geschrieben worden war.

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Warnschild vor dem Lager Maly Trostenez

Der Seiler-Bericht als historische Quelle 

Bei dem ursprünglichen 8 Seiten umfassenden Seiler-Bericht handelt es sich um eine maschinenschriftliche Durchschrift, auf der weder der Verfasser, noch Ort oder Datum angegeben wurden. Da Wolf Seiler (Jahrgang 1895) mit seiner Familie zu den wenigen Überlebenden des Lagers gehört, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass er diesen Bericht mit seinen Erinnerungen, Eindrücken und Erlebnissen an seine Zeit in dem Arbeitslager Malyj Trostenez als Zeugnis für die Nachwelt aufgezeichnet hat, evtl. auch für die sowjetische Untersuchungskommission. Seilers Aufzeichnung sind bedeutend, weil sie Einblicke geben in Abläufe und Alltag in Malyj Trostenez.

Die Vermutung liegt nahe, dass Seiler noch im Internierungslager Karaganda (Kasachstan) den Bericht verfasst hat. Dorthin war er von sowjetischen Streitkräften gebracht worden, nachdem er 1944 mit seiner Familie aus Malyj Trostenez ostwärts hatte fliehen können. Da der Bericht als Schreibmaschinentext vorliegt, ist es wahrscheinlich, dass Seiler den Text als Zeugenbericht selbst geschrieben oder jemandem diktiert hat, der im Internierungslager Zugang zu einer Schreibmaschine hatte.

Im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands (DÖW) in Wien wird bis heute das Original aufbewahrt. Dorthin gelangte es über Friedrich Hexmann, der nach Kriegsende im Auftrag der KPÖ mit den sowjetischen Behörden die Rückführung der befreiten Österreicherinnen und Österreicher aushandelte, die in sowjetischen Lagern interniert waren.[2] Es ist aber nicht bekannt, wie genau Hexmann in den Besitz dieses Berichts gelangt ist.

Seilers Bericht gibt Einblicke in den Verbrechenskomplex Malyj Trostenez. Er hielt die dortige Zwangsarbeit, Gewaltexzesse und den Massenmord an den Gefangenen aus dem Lager fest sowie Verbrechen in den Ghettos in und um Minsk.

Enthalten sind neben persönlichenn Eindrücken und Schilderungen auch eine Vielzahl an Sachinformationen. Manche Namen und Daten wurden bei der Transkription des DÖW korrigiert.

Seiler scheint sich Hintergrundinformationen über die Identitäten von ein paar Lagerkommandanten in Malyj Trostenez angeeignet zu haben, die er in seinen Bericht auch einfließen ließ. Allerdings ist nicht bekannt, woher er diese Informationen hatte. Wahrscheinlich ist, dass er diese Kenntnisse aktiv durch eigene Recherchen gesammelt hatte, nachdem er in Freiheit gelangt war. Generell ist es schwer, den Schilderungen gemäß zu differenzieren, was Seiler persönlich miterlebt hat und was er von anderen Menschen, wie Mithäftlingen oder der Wachmannschaft des Lagers, als Hörensagen berichtet.

Seiler hatte als sogenannter „Lagerältester“ eine Sonderstellung unter den Lagergefangenen inne, was wohl der Grund gewesen sein könnte, dass er und seine Familie die Zeit im Lager überlebten.[3] Auch andere Überlebende wie Ludwig Grünberg bezeichneten Seiler in ihren Darstellungen unter anderem als „jüdischen Leiter vom Judenrat“[4] . In dem Bericht wird jedoch an keiner Stelle auf diese Funktion eingegangen. Auch werden keine typischen Tätigkeiten eines Lagerältesten erwähnt, wie sie von anderen Lagerältesten anderer Lager bekannt sind -beispielsweise die Koordination und Überwachung der Arbeitsdienste der anderen Lagergefangenen.[5]

Quelle: 

Der    gesamte    Text    des    Seiler-Berichts    ist   auf    der    Internetseite    des Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes zu finden: https://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/vernichtung-deportationen-na ch-maly-trostinec-1942/vernichtungsort-maly-trostinec

[1] sog. Seiler-Bericht, S. 10.

[2] Vgl.: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes: Vernichtungsort Maly Trostinec. Der erste Bericht über den Massenmord und die Hürden der Erinnerung, Israelitische Kultusgemeinde Wien, 12.12.2017, online unter: https://www.ikg-wien.at/event/vernichtungsort-maly-trostinec-der-erste-bericht-ueber-den-massenmord-und-die- huerden-der-erinnerung/[10.05.2021]. 

[3] Vgl.:Dalhouski Aliaksandr; Diehl, Nazim: Seiler Wolf William, in: Zeitzeugenarchiv der Minsker Geschichtswerkstatt. Erinnern, lernen, forschen am historischen Ort, online unter: http://arch.gwminsk.com/de/archiv/wien/seiler-wolf-william [06.06.2021].

[4] Ebd.

[5] Vgl.: Dregger, Sebastian: Die Rolle der Funktionshäftlinge im Vernichtungslager Auschwitz – und das Beispiel Otto Küsels, 29.05.2010, online unter:https://www.aventinus-online.de/neuzeit/krise-der-klassischen-moderne-1918-1945/art/Die_Rolle_der_F/html/ca/819409dd06302568ca0abfc8f0dab72a/indexee27.html?tx_mediadb_pi1%5BmaxItems%5D=10 [06.06.2021].

Der Seiler-Bericht. Zeugnis eines Wiener Überlebenden